Der deutsche Dichter und Philologe Karl Simrock hat nicht nur das Nibelungenlied übersetzt, sondern er hat uns auch viele Zitate hinterlassen. Eines davon geht mir Besonderes nahe, immer dann, wenn ich in Frankfurt am Main unterwegs bin.
Das Alter soll man ehren – Der Jugend soll man wehren.
Karl Simrock, Dichter und Philologe
Sind Sie über sechzig, siebzig oder gar achtzig Jahre alt und haben Gehprobleme, laufen am Stock oder vielleicht noch schlimmer, Sie sind auf einen Rollator – dem sogenannten „easy walker“ angewiesen, dann passiert es sehr oft, dass Sie beim Straßenbahnfahren stehen müssen. Kein Mensch rührt sich um ihnen einen Sitzplatz anzubieten.
Eine Armee junger Menschen, mit sperrigen Rucksäcken auf dem Rücken, stiert aufs Handydisplay, tippt vor sich hin. Ohne zu merken, was um sie herum geschieht, halten sie all die Sitzplätze für sich allein besetzt. Manche schauen den alten Menschen direkt ins Gesicht, ohne die geringste Miene zu verziehen. Aufstehen tut keiner. Da kann eine alte Frau auch schon mal umkippen in der Tram, wem geht das etwas an?
Wenn man sich in deutschen Städten umschaut, dann sieht man kaum eine Erleichterung für alte Menschen. Kaputte Rolltreppen. Überfüllte Aufzüge, die mehr Platz bieten für Fahrräder als für Menschen. Schlange-stehen, anstehen generell.
Vor kurzem war ich in Brasilien und musste dort etwas auf der Bank erledigen. Wohlgemerkt, nicht auf einer Park-Bank, sondern in einem Geldinstitut! Wie so oft auch in Deutschland, traf ich beim eintreten in das Vestibül auf eine lange Schlange von Menschen. Verwundert guckte ich mich um und sah nur junge Menschen um mich herum. Keiner schien älter zu sein als fünfzig. Wohlerzogen wie ich bin und wie ich es 70 Jahre lang immer war, stellte ich mich gehorsam hinter eine junge Frau und wartete geduldig darauf, bis ich aufgerufen wurde, um nach vorne zu treten und mein Anliegen am Schalter vorzutragen. So, wie es hier in Deutschland üblich ist!
Es dauerte nicht lange, da sprach mich eine junge Frau die vor mir stand an: „Você não precisa fazer cola aqui. Vêm para frente. Têm mais de 60 años, né? (Sie brauchen hier nicht anzustehen, kommen sie nach vorne. Sie sind doch bestimmt über sechzig, oder?“) Die junge Frau lächelte mich verlegen an. Verdutzt sah ich in die Richtung, in der die junge Frau mit ihrem Finger zeigte und sah dort einen Schalter, mit einem Bankangestellten, vor dem niemand stand. Ich tat, wie mir empfohlen wurde, ging direkt zu dem Schalterbeamten hin, der mich schon zu sich winkte, als er mich sah und in Sekundenschnelle wurde ich bedient. Ich war keine 5 Minuten in der Bank. Konnte alles erledigen. Musste nicht anstehen. Wurde – und das ist hier für mich das ausschlaggebende – umgehend ohne in der Schlange zu stehen, sofort bedient und vor allem „freundlich, höflich“ darauf hingewiesen, dass ich gemäß meines Alters (über 60) nicht anzustehen brauche.
Eine Woche später befand ich mich in Kolumbien, genauer gesagt in Bogotá. Man mag sagen was man will über diese Stadt, aber auch hier hat man großen Respekt vor den älteren Leuten. Wieder war ich auf einer Bank, um etwas einzuzahlen. Wieder stellte ich mich gehorsam in eine Schlange von Menschen, die darauf warteten an einem Schalter bedient zu werden und ja, wieder machte mich ein freundlicher Mensch, bedeutend jünger als ich, darauf aufmerksam, dass ich nicht anzustellen brauche, auf Grund meines Alters, denn ich sei ja bestimmt älter als sechzig.
Jetzt war ich überzeugt. Ein ganzer Kontinent – von dem viele hier bei uns in Deutschland behaupten, das die Menschen dort fast alle arm, ungebildet, moralisch unzuverlässig, gar faul seien, im Übrigen keine Manieren hätten, Kultur schon gar nicht… – hat sich mir im täglichen Leben als ein Ort gezeigt, wo man weit mehr Respekt vor älteren Leuten hat, als im vielgepriesenen fortgeschrittenen Deutschland.
Gerade als ich diese Zeilen zu Ende geschrieben hatte, rief mich mein Chef an und fragte mich, ob ich eine brasilianische Reisegruppe von älteren Herrschaften nach Heidelberg begleiten wolle? Ich sagte zu und zwei Tage später reiste ich mit den Brasilianern von Frankfurt nach Heidelberg und wir machten einen Ausflug auf das weltberühmte Heidelberger Schloss.
Der Tag hätte eigentlich nicht schöner sein können. Die Sonne schien, der Himmel war blau und meine Brasilianer waren gutgelaunt und voller Freude auf ihren Besuch. Ein paar ältere Damen meiner Reisegruppe hatten allerdings eine Gehbehinderung. Ich kümmerte mich um sie und lief besonders langsam voran, damit die älteren Damen auch alles mitbekamen, wovon ich zu erzählen hatte. Als wir das Heidelberger Schloss verließen und zur Bergbahn gingen, stellte sich am Eingang der Bahn eine größere Schulklasse von Kindern – etwa 6 bis 8 Jahre alt – vor uns und versperrte den Eingang. Geduldig stellten wir uns hinter die Kinder. Währenddessen kam ein großer Tumult auf und ich beobachtete die beiden Schullehrerinnen, in der Vorahnung mich darauf gefasst zu machen, noch einiges an Unmut zu erleben. Kinder an sich sind etwas Erfrischendes und es macht Spaß in ihrer Mitte zu sein, aber manchmal bekommt man ein Zeichen, wenn Ärger bevorsteht. Sicherlich wissen Sie auch, liebe Leser, wovon ich rede!
Nun, es wurde immer lauter und lauter, was an sich auch kein großes Problem war, denn wo Kinder sich aufhalten, da ist das halt mal so. Aber als wir in die Bergbahn eintraten, ging ein Gerangel um die Sitzplätze los. Nun muss man wissen, das in der Heidelberger Bergbahn nur wenige Sitzplätze vorhanden sind. Einige von den flinken unruhigen kleinen Kerlen drängten sich brüsk nach vorne und setzten sich vor der Nase meiner älteren gehbehinderten Brasilianerinnen, direkt auf die Sitzbänke und schauten dabei den alten Frauen frech, ja fast herausfordernd ins Gesicht.
Da musste ich mich einmischen!
Gelassen aber sehr bestimmt befahl ich den Jungen aufzustehen und die Plätze für die älteren Frauen frei zu machen. Ich hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da meldete sich eine junge Lehrerin zu Wort. Vielleicht Mitte 30, dünn, zäher Typ, spitze Nase, schneeweißes knochiges Kinn, dünne schwarze Brille auf der Nase, etwas bissiger Blick. Das Donnerwetter war vorprogrammiert!
Ihre Stimme – es wunderte mich nicht – kreischte und passte genau zum Rest der Kulisse: „Diese Kinder sind noch nie mit einer Bergbahn gefahren. Das ist der einzige und erste Ausflug, den sie hierher machen. Die haben sich so gefreut, da vorne zu sitzen, mit der Bahn nach unten zu fahren und alles zu sehen. Warum müssen alte Leute immer was zu meckern haben, wenn sie Kinder um sich herum sehen?“
Ich gebe zu, eigentlich bin ich nicht auf den Mund gefallen. Aber nach dieser dreisten Bemerkung einer Lehrerin, die in ihrer Vorbildfunktion von heranwachsenden jungen Menschen dem Anstand verpflichtet ist, war auch ich – mit meiner sonst so schlagfertigen Rhetorik – schlicht und einfach sprachlos geworden!
Bitte nehmen Sie sich etwas DenkZeit… und denken mal darüber nach…!
Arthur Pahl wurde in Gladbeck/Westfalen geboren und wuchs in Würzburg auf. Nach einer Ausbildung im Hotelfach, absolvierte er ein Praktikum in der Schweizer Nobelgastronomie, arbeitete als Steward auf einem Ozeandampfer, lebte in den USA, Kolumbien, Kanada und Brasilien, war abwechselnd Reisbauer, Smaragdhändler, Taxifahrer, Grabsteinverkäufer und Börsenmakler, bevor es ihm gelang in Deutschland einen halbwegs sicheren Hafen anzusteuern, von dem aus er seither als Reiseleiter für internationale Reisegruppengruppen tätig ist. Arthurs Lebensmotto ist: „Schreiben ist Leben – lesen ist Leben verstehen.