Bahnsteig 7

Ich mag die vorbeirasende Dunkelheit. Auch die aufblitzenden, huschenden Lichter. Es ist, als hätten sie es eilig, anzukommen. Vielleicht in der Heimat, wo auch immer sie ist.

Obwohl ich sie nicht mag, diese Erwartungen. Erwartungen, die an Kindheit denken lassen, an Weihnachten, Lamettafäden, an eine silberne Spitze, die schief oben auf dem Tannenbaum mit Draht festgemacht war, an die Nervosität meiner Mutter, die zu Ostern mit dem Ostersonntagshuhn kämpfte, und an meinen Bruder, der an solchen Tagen grässlich hungrig per Anhalter aus Hamburg kam. In jenen fernen Zeiten wünschte ich mir neben einem Fahrrad und Rollschuhen ein Buch. Letzteres bekam ich. Jedes Jahr zu Ostern. Zwei oder drei davon habe ich noch. Weihnachten gab es langweilige, schrecklich praktische Dinge.

Ich muss umsteigen und die einlullende Wärme des Zugabteils verlassen. Ich habe nicht viel zu tragen. Schon stehe ich auf diesem fremden Bahnsteig mit der Nummer sieben, der schnell sehr leer und sehr verlassen ist. Es ist halb zwei, die Nacht scheint lang.

Die Anschlagtafel verkündet, dass der Anschlusszug wegen eines Unglücks erst am frühen Morgen eintreffen wird. Ich suche nach der Auskunft, einem Bahnmitarbeiter, nirgends ist einer zu finden. Nach einer Wartehalle suche ich auch und entdecke sie im Untergeschoss, schiebe die Tür auf und setze mich. Hinten in der Ecke döst ein Mann mit einem speckigen Lederhut, den er tief ins Gesicht gezogen hat. Neben dem Schlafenden steht ein Seesack. Eine Girlande mit unzähligen winzigen Lichtern hängt über der toten Neonlampe.

Ich öffne meinen Koffer, fische Zitronenwaffeln hervor. Die schmecken nach zu Hause. Aber lieber hätte ich etwas zum Lesen. Was ich dabei habe, kenne ich längst. Ich falle in diese Stille hier unten, und oben, da fahren die Züge. Einige Kekse bringe ich dem Mann mit dem Hut, stelle sie in einer Tüte neben ihn. „Danke! Und einen Augenblick!“ Seine Stimme ist tief, angenehm. Mit geschlossenen Augen zieht er den Verschluss des Seesacks auf, greift hinein, zieht etwas hervor. „Bitte! Damit die Zeit nicht ins Endlose fließt.“ Er öffnet die Augen, er lächelt, ein wissendes Lächeln, als kenne er mich und überreicht mir ein Buch im schmutzig-blauen Leineneinband. Wie selbstverständlich nehme ich es, ohne den Titel wahrzunehmen, bedanke mich, wünsche eine gute Weiterreise, er winkt ab und sagt: „Lies.“

Zurück an meinem Platz, schlägt mein Herz einen Purzelbaum. Ich halte „Der Seewolf“ von Jack London in den Händen. Das kann nicht sein, genauso eins habe ich geschenkt bekommen, als ich dreizehn war. Und kurz darauf verloren. Ich habe es so vermisst und mich nie getraut, meinen Verlust laut zu beklagen. 

Ich heule in mich hinein. Ich lese und lese. Erinnere mich sofort an die Geschichte von Kapitän Wolf Larsen, an seinen Robbenfänger „Ghost“.

Irgendwann bin ich eingeschlafen. Als ich wach werde, muss ich gucken, wo ich mich befinde. Der Mann mit dem Hut ist fort. Ich sitze allein in dem Warteraum. Davor fegt eine dunkelhäutige Frau ein Stück Bahnhofshalle. Ich halte den „Seewolf“ in meiner Hand, ein Finger liegt auf Seite 113.

Natürlich. Mein Anschlusszug ist weg. Trotzdem – ich bin fröhlich wie lange nicht, steige in einen Zug, der in die Stadt fährt, in die ich nicht wollte. Später bin ich froh. Er hält in meiner alten Heimat, ich gehe durch die Straßen, blicke nachdenklich in den großen Park, der gar nicht mehr groß ist, ich versuche mich zu erinnern und bin für ein paar Stunden wieder zu Hause.

An nächsten Tag gehe ich zum Bahnhof. Nur an das schöne Gewölbe kann ich mich entsinnen. Alles andere ist fremd, als hätte ich hier früher nie gestanden und gewartet. Es ist laut. Die Luft vibriert vor Unruhe. Mein Zugabteil ist voll besetzt. Es riecht nach Kunststoff, nach Kaffee, nach unpersönlicher Kühle.

Als wir den Bahnhof, dann die Stadt verlassen, fühle ich mich heimatlos und fremd.

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