Der Tod gehört zum Leben

Der Tod wird in unserer Gesellschaft ausgeklammert. Wir wollen ihn nicht wahrhaben. Doch er lässt sich nicht ausgrenzen.

Durch die Coronapandemie ist er wieder akut geworden, der Tod. Das mag ein wenig überraschen, denn sterben, das tun die Menschen bekanntlich immer. Sie tun es eben nur nicht öffentlich. Das heißt, das ist falsch. Öffentlich tun sie es noch immer nicht. Denn der Tod durch Corona ist für uns doch nicht mehr als eine sich täglich verändernde Zahl, ohne die der Inzidenzwert nicht komplett wäre. Der Tod ist noch immer abstrakt, nur sein Einfluss ist gestiegen. Wir tragen Masken, wir lassen uns impfen, wir nehmen Einschränkungen in Kauf, die sich kaum einer vor zwei Jahren hätte vorstellen können. Doch eigentlich stimmt auch das nicht, denn was uns beherrscht ist weniger der Tod als die Angst vor ihm. Wie lies William Shakespeare seinen Hamlet doch so schön sagen:

Nur dass die Angst vor etwas nach dem Tod, / Das unentdeckte Land, von des Bezirk /Kein Wandrer wiederkehrt, den Willen irrt, / Dass wir die Übel, die wir haben, lieber / Ertragen als zu unbekannten fliehn.

Über den Tod will niemand mehr reden, mit dem Tod will niemand etwas zu tun haben – und sehen will man den Tod schon gar nicht. Nicht einmal das Sterben können wir noch ertragen, oder ertragen lassen. Als vor ein paar Jahren mein Großvater starb, wollte er nicht mehr, dass man ihn besucht. Er glaubte, er dürfe seinen Zustand niemanden mehr zumuten. Und auch als er dann gestorben war, blieb der Sarg geschlossen. Die Beerdigung war klein, auch vor Corona. Die Familie, ein paar Freunde, Nachbarn, ein verbliebener Arbeitskollege. Keine Kinder. Kinder muten wir den Kontakt mit dem Tod schließlich heute am allerwenigsten zu. Die Zeremonie in der Kirche verdiente kaum den Namen. Der Ministrant zog sich auf dem Weg von Kapelle zum Friedhof nicht einmal ein Gewand über, dafür wusste dank seines T-Shirts jeder, welche Musik er gerne hörte. Auf dem kleinen Kaffee nach der Beerdigung spielte der Verstorbene kaum eine Rolle, es ging um alltägliches, was dem Thema noch am nächsten kam war ein Priester, der sich beklagte, seine Kirche sei nicht modern genug. Kurzum, es war trostlos. – Und dabei sollte uns doch dieser Tag Trost spenden. Trost über einen endgültigen Verlust. Trost, ob der Tatsache, dass ein Mensch, den man geliebt hat, nur noch in der eigenen Erinnerung lebendig sein wird.

Der Tod dar nicht zuhause stattfinden

Der Tod ist abgeschoben. Die Leute sterben nicht mehr zuhause, sie werden rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht. Dort sind sie, wenn sie Glück haben, noch mit ihrem Partner an der Seite, viele andere Familienmitglieder schaffen es nicht mehr rechtzeitig – oder wollen das vielleicht auch gar nicht. Gestorben wird heute professionell, unter professioneller Aufsicht von Ärzten und Pflegern. Ich halte das für ein Kernproblem unserer heutigen Gesellschaft, nicht allein unseres Umgangs mit dem Tod wegen.

Michel Aupetit, Erzbischof von Paris, dürfte mir da zustimmen. Sein Buch Der Tod – Meditationen über einen Lebensweg ist ein wichtiges neues Buch zu diesem Thema. Aupetit ist, was man heute einen Ausnahmepriester nennen würde. Wenn er über den Tod spricht, spricht nicht nur ein Priester, sondern auch ein studierter Arzt und Bioethiker. Auch das merkt man diesem kleinen Büchlein an. Es ist mehr als nur eine Erinnerung, wie der christliche Umgang mit dem Tod eigentlich sein sollte – und bei vielen Christen nicht mehr ist. Es ist auch eine Erinnerung daran, dass der Tod einst tatsächlich zum Leben gehörte.

„Deshalb haben diese Meditationen über den Tod kein anderes Ziel, als Kenntnis davon zu erlangen, wie das Leben, das richtige Leben, geführt werden sollte, um das Leben in Fülle zu empfangen.“ – Erzbischof Michel Aupetit

Wenn ich noch einmal persönlich werden soll, würde ich für mich selbst sagen, ich habe keine Angst vor dem Tod. Warum sollte ich mich auch ängstigen? Gut, um das Purgatorium werde ich nicht herumkommen, ich bin kein Heiliger, aber danach wird es besser – ich weiß zwar nicht wie es besser wird, aber ich bin mir gewiss, besser kann es nicht werden. Doch mit dem Sterben sieht es anders aus. Das Sterben aber gehört zum Leben, das lässt sich weder agnostisch, gnostisch noch atheistisch wegdiskutieren. Es lässt sich allerdings ausklammern, wie es unsere Gesellschaft tut, und künftig vielleicht verhindern, wie es die Fantasten eines ewigen Lebens tun. Das ein ewiges Leben, kein gutes, schönes, echtes Leben wäre, dass ist allerdings noch einmal eine andere Geschichte. Ein so umfassendes Thema, das es die Grenzen dieses kleinen Textes sprengen würde. Aber auch hier trifft Aupetit einen Punkt, indem er feststellt, dass es uns heute nicht mehr um den „absoluten Wert“ des Lebens an sich geht, sondern nur noch um das „Leben des Individuums“. Darin schließen sich nahtlos die Bestrebungen der westlichen Gesellschaft ein, sowohl über den Anfang als auch das Ende des Lebens selbst zu bestimmen. Wenn auch freilich nur die Sterbehilfe über das eigene Leben entscheidet, während Abtreibung ein anderes Leben beendet – zu einem Zeitpunkt, an dem es zwar schon lebt, aber doch nur für wenige sichtbar ist.

Der Tod des Anderen

Jenseits dieser Individualität ist der Tod, so Aupetit, aber vor allem auch nicht mehr der Tod des eigenen Selbst, sondern der Tod des Anderen geworden. Und hier sind wir wieder in der Aktualität des Coronavirus gelandet. Einer Zeit, in der „der erste Reflex darin bestand, sich vor den anderen zu schützen“, so Michel Aupetit, „das große Gebot der Liebe, das Christus uns übergeben hat, „Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben‘ (Joh. 13,34), wurde abgelöst von der Anordnung ‚Schützt euch voreinander‘.“ In ihrer weltweiten Unterwerfung unter die Coronamaßnahmen der Politik, hat auch die Kirche ihren Teil dazu beigetragen diesen Vorwurf real werden zu lassen. Noch immer findet man in den katholischen Kirchen statt Weihwasser Desinfektionsmittel.

Doch allen Maßnahmen zum Trotz, wir können uns nicht zu 100% vor dem Tod schützen. Aber wir laufen Gefahr, uns immer mehr vor dem Leben zu schützen. Seit einiger Zeit gilt Georg Orwells 1984 wieder als Roman der Stunde, dem ich persönlich immer hinzufüge, dass wir auf eine Gesellschaft hinsteuern, die eher eine Mischung aus 1984 und Aldous Huxley‘s Schöne neue Welt darstellt. Beide Autoren kannten sich, Huxley war in Eton Lehrer Orwells, doch der wirkliche Roman der Stunde entstand erst 2009: Juli Zeh’s Corpus Delicti In ihrem Roman beschreibt die Autorin jene Auswirkungen einer Gesundheitsdiktatur, die ich, als ich das Buch vor zehn Jahren las für eine etwas weithergeholte Dystoptie hielt. Die Realität hat Zeh’s Fiktion inzwischen eingeholt.

Einer solchen Dystoptie setzt Aupetit keine Utopie entgegen, er ist überhaupt nicht politisch und wenn auch Corona eine Rolle spielt, äußert er sich nicht bewertend zu einzelnen Maßnahmen. Seine Meditationen sind eher ein allgemeiner Weckruf für einen anderen, vernünftigen Umgang mit dem Tod. Ein Plädoyer dafür, den Tod als das zu nehmen, was er ist: Der Tod ist Bestandteil des Lebens.


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