Mein Neffe konnte noch nicht mal richtig sprechen, als er schon wie ein Profi auf dem iPad navigierte. Spiele-Apps, Videos bei Youtube ansehen – alles überhaupt kein Problem. Irgendwann werde ich ihm sicher mal eine Geschichte von vor 20 oder 30 Jahren erzählen, und mir vorkommen wie „Opa, der vom Krieg erzählt“.
Wenn wir der Digitalisierung eines nicht vorwerfen können, dann ist es wohl Langsamkeit. In den letzten zehn bis 15 Jahren hat sich unsere Welt so radikal wie selten zuvor verändert. Ganz ehrlich ich glaube das Letzte was die Welt so schlagartig verändert hat, war der Asteroid, der die Dinosaurier hat aussterben lassen.

Als ich jung war, hatte das alte Telefon meiner Eltern noch eine Wählscheibe. Als ich meinen Wehrdienst abgeleistet habe, musste ich eine Telefonzelle suchen, um mit uhause zu telefonieren. Und als ich mir ein Handy angeschafft habe, war der klitzekleine Bildschirm monochrom und das Tippen einer einzigen SMS hat gefühlte Stunden gedauert. Und selbst in den nerdigen Dingen des Lebens hören sich meine Geschichten schon wie Vorkriegsstorys an. Spiele für den C64 haben wir auf riesigen und wabbeligen Floppydisks getauscht. Beschriftet mit Aufklebern und der ungestellten Frage, wer dieses eine Original gekauft hatte, von dem alle anderen eine Kopie bekommen hatten. Und als ich mich zum ersten Mal ins Internet eingewählt habe, piepste das Modem durchs ganze Haus und man selbst hoffte immer, niemand würde jetzt anrufen und einen aus der Leitung werfen. Ich hab mir Bildergalerien von Alyssa Milano angesehen, die sich in einer Geschwindigkeit auf dem Bildschirm aufgebaut haben, die heute selbst in der deutschen Provinz nicht mehr verkaufbar wären. An Videos war gar nicht zu denken. Und wer sich MP3s runterladen wollte, ist zwischendurch schlafen gegangen. Manchmal waren sie dann am nächsten Morgen fertig heruntergeladen, es sei denn irgendein Anruf hatte den Rechner kurz vom Internet getrennt.
Alexa, organisiere bitte mein Leben
Und heute? Ich habe keine Uhr in meiner Wohnung, wenn ich wissen will wie spät es ist, frage ich Alexa. Das Gleiche gilt auch, wenn ich mich plötzlich dafür interessiere wie viele Einwohner Ost-Timor hat oder wer bei der letzten Kricket-WM den Sieg errungen hat. Ich finde mich in wildfremden Gegenden zurecht, vorausgesetzt der Empfang ist gut genug um Google Maps zu nutzen. Dann muss man einfach in die Richtung gehen, die der Pfeil einem anzeigt. Wobei man gelegentlich auch auf den Verkehr achten sollte. Und dank gefühlt einem Dutzend Messenger-Apps auf dem Handy frage ich mich ernsthaft, wie ich mich als Kind mit Freunden verabredet konnte. Rückblickend waren das sicher logistische Meisterleistungen. Eigentlich ist das doch ein Ding der Unmöglichkeit, ein Wunder, das ich vor Facebook überhaupt soziale Kontakte hatte.
Kurz, wenn sich der große Sonnensturm von 1895 wiederholt und sämtliche Leitungen durchbrennen, ist ein Großteil der Menschheit verloren. Ja, es gibt sicher unzählige Videos auf Youtube, die einem das Überleben nach der Apokalypse zeigen – es gibt nur kein Youtube mehr. Während MacGyver mit seinem Schweizer Taschenmesser vielleicht noch überleben würde, sind unsere modernen Schweizer Taschenmesser dann schlicht und einfach wertlos gewordene Apps auf dem Smartphone. Aber auf der anderen Seite, wer heute an der Bushaltestelle sieht wie alle auf ihre Handys starren, der fragt sich unweigerlich, ob die Zombieapokalypse nicht längst begonnen hat. Viel teilnahmsloser können Zombies auch nicht sein, und die Handyzombies haben zumindest keinen Appetit auf Hirn.
Ohne WLAN sind wir nicht mehr überlebensfähig
Seit einigen Jahren lagern wir immer mehr Fähigkeiten und Wissen schlicht aus, im Vertrauen darauf, dass irgendwo schon WLAN zur Verfügung steht. Dank Google und Wikipedia weiß der einzelne Mensch so viel wie nie zuvor – aber eigentlich weiß er gar nichts mehr. Der Wirtschaftsmanager nennt so etwas Outsourcing, und wird erst merken, dass es eine blöde Idee war, wenn er in seiner riesigen Konzernzentrale plötzlich ganz alleine ist.
Das Leben ist einfach geworden. Alexa, Siri oder Cortana sind nur ein Vorgeschmack auf das, was in ein paar Jahren kommen wird. Der digitale Rundumsorglos-Service. Wir wollen etwas wissen, etwas bestellen, das Licht dämmen, das Wasser in der Badewanne temperieren, nie wieder den Hochzeitstag vergessen – alles kein Problem mehr.
Manch einem wird bei diesem Gedanken bange, verhindern wird er es nicht können. Die Digitalisierung schreitet in großen Schritten voran. Wobei die arme Digitalisierung natürlich wenig für ihr schlechtes Image kann und auch nicht an ihrer rasanten Geschwindigkeit schuld ist. Dahinter steckt letzten Endes wieder nur die Menschheit mit ihrem Trieb nach vorn. Früher hat uns das über Ozeane geführt, Männer wie Ferdinand Magellan oder James Cook sind deshalb um die Welt gesegelt. Da Marsmissionen aber vergleichsweise teuer sind, muss der Fortschritt heute digital sein. Und mit Hilfe von Virtual Reality können wir schließlich unsere Füße in den staubigen Boden des roten Planeten setzen, ohne Raumanzug und Angst vor der gefährlichen Strahlung.
Selbst die Alpen bieten keine Zuflucht mehr

Und was sollen jene machen, die nicht dabei sein wollen? Gesellen sie sich zu denen, die schon heute mit selbst gebastelten Hüten aus Alufolie herumlaufen, weil sie glauben dadurch ihr Gehirn vor Gedanken kontrollierenden Strahlen zu schützen? Gibt es irgendwann kleine Rückzugsgebiete, umgeben von Störsendern, in denen die Digitalisierung nicht stattfindet und der Mensch – Gott bewahre – auf sich selbst zurückgeworfen ist? Oder werden die letzten Digitalverweigerer sich irgendwann in die Alpen flüchten, und ein einfaches Leben führen, wie jene Menschen, die sich in Michel Houllebecq’s Roman „Elementarteilchen“ keiner kompletten Genveränderung unterwerfen wollten?
Letzten Endes wird uns nichts anderes übrigbleiben, als zu versuchen mit der Entwicklung Schritt zu halten. Sie zu verstehen und vielleicht zumindest ein wenig mitzugestalten. Sich total zu verweigern erscheint mir jedenfalls nicht minder dumm zu sein, als sich ihr wie einer Naturgewalt hinzugeben.
Thomas Matterne schreibt Geschichten seit er schreiben kann. Sein erster beruflicher Weg führte ihn jedoch in die Online-Redaktion eines Fernsehsenders. Während er jetzt eher im Bereich PR und Marketing unterwegs ist, ist er aber ebenso ein leidenschaftlicher Blogger.