Editorial: Abschied

Das alte schottische Volkslied „Auld lang syne“ ist mit seiner Melodie sicher eines jener Stücke, die überall auf der Welt bekannt sind. Das es den englischen Sprachraum verließ, ist in erster Linie wohl den Pfadfindern zu verdanken. Die Pfadfinderbewegung begann das Lied traditionell zum Ende eines Treffens zu singen, weshalb schon kurz darauf unter anderem Übersetzungen in Französisch oder auch Deutsch geschrieben. Im Deutschen gab es eine Zeit lang mehrere Übersetzungen, doch am Ende setzte sich „Nehmt Abschied Brüder“ durch.

Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss
ist alle Wiederkehr,
die Zukunft liegt in Finsternis
und macht das Herz uns schwer.

Zu meiner Schulzeit war es auch Bestandteil des Musikunterrichts. Und es war insofern ein sonderbares Lied, weil es bei Lehrern und Kindern trotz seiner offensichtlichen Traurigkeit so beliebt war. Bei „Nehmt Abschied Brüder“ stimmte so manches Kind in den Gesang mit ein, das sonst in der letzten Reihe nur gelegentlich die Lippen bewegte, um den Anschein zu erwecken, dass es mitsingen würde. Ich muss es wissen, ich war eines dieser Kinder.

Manchmal begegnet mir „Auld lang syne“ heute noch in alten Schwarz-Weiß-Filmen, in denen eine Silvesterfeier dargestellt wird. Ein Kameraschwenk auf die Standuhr mit dem großen Zifferblatt, die Zeiger bewegen sich auf Mitternacht zu und im Hintergrund beginnen die Menschen zu singen „Should auld acquaintance be forgot, / and ne’er brought to mind? / Should auld acquaintance be forgot / and auld lang syne?“. Noch heute soll das Lied auf den traditionsbewussten Silvesterfeiern angestimmt werden.

Vielleicht zeigt sich in dieser Tradition am deutlichsten, warum der Abschied hier doch nicht immer ein trostloser Moment sein muss. Dieser Abschied wird in den letzten Sekunden des alten Jahres genommen, kurz bevor ein neues Jahr beginnt. Dessen Zukunft mag zwar ungewiss sein, oder wie im deutschen Text zu hören, gar in Finsternis liegen, aber dennoch ist sie da. Deshalb ist ein Bestandteil dieses Abschieds auch immer der Beginn von etwas Neuem. Und am Ende, liegt in jedem Abschied auch immer ein Neubeginn.

Dabei ist es gleichgültig, ob man den Verlauf des Lebens und der Zeit als eine gerade Linie betrachtet, wie es die westliche Gesellschaft tut, oder eher einen Kreislauf vermutet, wie asiatische Lehren nahelegen.

Selbst das ultimative Ende, das Ende des Universums könnte nur wieder ein neuer Anfang werden. Das legen zumindest astronomische Modelle nahe, die im Ende des Universums schon die Vorbereitung für einen neuen Urknall sehen. Und was ist mit dem Tod eines Menschen? In gewisser Weise unser eigener ultimativer Abschied im Privatem? Unterschiedliche Religionen haben unterschiedliche Antworten darauf gegeben. Mit Ausnahme jener, die allein an die Naturwissenschaft glauben, haben all diese Religionen gemein, dass sie den Tod als einen Übergang deuten. Bei der ein oder anderen Religion ist es vielleicht auch nur ein Übergang zu einer Wiedergeburt, aber selbst bei diesen steht am Ende eine Welt, mag man sie Himmel, Nirwana oder anders nennen, in der es keinen Abschied mehr gibt. Allein für den Atheisten ist Tod ein finales Verschwinden von dieser Welt, zumindest im Sinne einer Existenz, die es ihm erlaubte, etwas zu besitzen, was andere als seine Seele bezeichnen würden. Aber selbst der Atheist kann nicht verhindern noch eine gewisse Weile weiterzuleben, in den Gedanken seiner Familie, Freunde und Feinde.

Deshalb liegt jedem Abschied, so schwer er uns auch fallen mag, so starke Schmerzen er auch bereitet, immer ein gewisser Trost bei. Der Trost, dass auf jeden Abschied ein Neuanfang folgt.

In diesem Sinne,
Thomas Matterne,
Chefredakteur DenkZeit