Hier sitze ich nun im ehemaligen Kinderzimmer meiner Schwester und starre auf den Bildschirm. Neben mir hat sich mein Sohn in den urbequemen IKEA-Sessel eingekuschelt und liest in seinem neuesten Asterix-Heft. Er ist gefangen in einer anderen Welt. Und eine andere, längst vergangene Zeit greift nach mir.
Als dieser Raum noch das Zimmer meiner Schwester war, waren die Wände mit einer grüngrauen Grastapete beklebt. Auf dem Boden lag ein hellbrauner Teppich. Ich drücke meine nackten Füße auf das neu verlegte Parkett und staune, was so ein bisschen neue, schneeweiße Tapete aus den Wänden machen kann.
Mein ehemaliges Zimmer existiert längst nicht mehr. Kaum war ich ausgezogen, rissen meine Eltern die Wand ein und vergrößerten das Badezimmer um das Doppelte. Dort, wo einst mein Bett stand, prangt heute eine Badewanne. Die alte Kinderzimmertür führt nur noch in eine kleine Kammer, in der Staubsauger, Konservendosen und Putzmittel lagern.
Es war schwer, die alte Wohnung meiner Eltern als die nun meinige zu bezeichnen. Zu beziehen. Sie zu mögen und als Heimat zu benennen. Nach dem Tod meiner Mutter schlug mein Vater vor, dass wir ins Haus ziehen. Ihm selbst hat die einst als Wohnung der Großeltern gedachte Wohnung im Dachgeschoss ohnehin immer besser gefallen. Also baute mein Mann diese um. Aus. Erneuerte das kotzgelbe Badezimmer. Vernichtete die dunkelbraune Küche. Und ruinierte nebenbei zum dritten Mal seine Bandscheibe.
Und dann wuchtete mein Vater seine Habseligkeiten eine Treppe höher.
Die Wohnung meiner Eltern stand leer.
Unsere damalige Bleibe war eine über 100 Jahre alte Bruchbude mitten an einer Hauptverkehrsstraße. Lärm. Dreck. Ein überheblicher Vermieter.
Die Entscheidung war also nur logisch.
Vor allem für meinen Mann, der mit meinem Heimathaus nichts verband außer ein paar gemütlichen, sehr lustigen Abenden mit meinen Eltern. Ich erinnere mich glasklar. Es war der 23. Dezember. Meine Kinder würden die Weihnachtstage bei meinem Ex-Mann verbringen. Ich wachte gegen sieben Uhr auf und drehte mich noch mal um. Ausschlafen! Feiertag!
Ich hatte die Rechnung ohne meinen Monsieur gemacht. Der trat Punkt halb acht mit dem Akkuschrauber in der Hand ans Bett und verkündete: „Wir ziehen heute um.“
Ich erstarrte. Hätte ich nicht noch zwei Monate Zeit gehabt? Kisten packen. Die neue alte Wohnung renovieren? Die Geister vergangener Tage vertreiben?
Hatte ich nicht.
Und es war gut so.
Der erste, der in diesem Heimathaus verstarb, war mein Großvater. Am Abend vor seinem Tod besuchte ich ihn, wie immer, oben unter dem Dach. Las ihm aus der Tageszeitung vor. Und grinste mit ihm über unsere Abenteuer. Mein Opa Willi war als Rentner erblindet. Was ihn nicht daran hinderte, die Gerüste in der Nachbarschaft mit all den Neubauten zu besteigen. Auf meine Anweisungen hin. „Du bist jetzt meine Augen“, sagte er und ich lernte, Dinge zu beschreiben.
Nie werde ich den infernalischen Schrei meiner Oma Lotte vergessen, als sie ihren Mann tot zwischen Zimmer und Bad liegen sah. Mit diesem Gebrüll hörte sie auf zu leben. Blieb aber noch 18 Jahre bei uns. Bis sie im Pflegebett im ehemaligen Kinderzimmer meiner Schwester, also meinem heutigen Büro, endlich gehen durfte. Wohin auch immer, was auch immer ihre Heimat war, geflüchtet aus Ostpreußen.
In diesem Zimmer machte auch der Vater meines Vaters seinen letzten Atemzug. Im selben Bett wie meine Oma, mit demselben Blick aus dem Fenster, den ich jetzt in diesem Moment habe. Feld. Viel Wiese. Apfelbäume. Und am Horizont die Burg Hohenzollern. Dann und wann ist die schwedische Königin dort zu Gast. Das sieht man an der gehissten Flagge. Sie und die Hohenzollern sind irgendwie verwandt. Mit derselben Aussicht vor den sterbenden Augen lag auch meine andere Oma hier.

Meine Mutter durfte zu Hause sterben. Sie war krank, sehr sogar. Wieder und wieder standen mein Vater und ich mitten in der Nacht auf der Intensivstation. Wir sollten immer wieder entscheiden, ob sie lebenserhaltende Hilfe bekommt oder nicht. Wieder und wieder sprang sie Gevatter Tod von der Schippe. Bis zum Juli 2017. Mein Vater rief mich an. Sie verweigerte das Trinken. Wollte nicht Aufstehen. Ich wusste: sie will gehen. Wir riefen keinen Arzt mehr an.
Heute schlafe ich in dem Zimmer, in dem die Frau, die mir einst das Leben schenkte, den letzten Atemzug tat. Meine Kleider hängen auf der Stange, von der ich die möglichst bunte und fröhlichste Klamotte für ihren Sarg aussuchte. Ich putze meine Zähne an dem Waschbecken, das sie ausgesucht hatte und koche in der Küche, die sie gekauft hatte.
In der ersten Nacht, an Weihnachten, wachte ich schreiend auf. Jemand schien auf meiner Brust zu liegen. Nach mir zu greifen. Ich brüllte in die Dunkelheit: „Geh! Hau ab! Das ist mein Zuhause!“
Und ab jenem Moment war es das auch.
Ich habe an vielen Orten gelebt. Versucht, dort Wurzeln zu schlagen. Mein Exmann und ich, zum Beispiel, wohnten in einem scheinbar perfekten Architektenhaus. Es gelang mir nie, dort wirklich anzukommen. Immer war da dieses Gefühl: „Zuhause!“, wenn ich das Haus meiner Kindheit sah. Trotz und vielleicht wegen der Toten.
Und auch wegen meiner Kinder. Die haben von den Zimmern sofort Besitz ergriffen und sie nach den eigenen Wünschen gestaltet. Für sie gibt es hier keine Toten. Sie freuen sich über den funktionierenden Handy-Empfang im Keller und über den Garten. Dass dort mein erster Hund begraben liegt, interessiert sie nicht. Auch nicht, dass wir unter den mittlerweile übergroßen Tannen ein halbes Dutzend Katzen begraben haben. Meine Kinder sind einfach da. Schlagen neue Wurzeln und definieren ihr Heim, ihre Heimat, ganz neu.

Bücher der Autorin:
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Silke Porath lebt mit ihrem französischen Mann in der gemeinsamen Wahlheimat Balingen am Rande der schwäbischen Alb. Die 1971 geborene Mutter dreier Kinder arbeitet als freie Journalistin und Schreibtrainerin. Die ausgebildete Redakteurin und PR-Beraterin ist Mitglied bei den 42erAutoren, im Verband deutscher Schriftsteller und der Gruppe 48.
Ist so echt geschrieben wie es wirklich war
Eine wirklich anrührende, echte, unsentimentale Beschreibung.
Die Toten treten hervor. Damit wird der Tod enttabuisiert.
Ein Zusammenhang lässt sich erahnen.