Beim Literaturstudium wird als allererstes definiert, was das eigentlich ist, Literatur. Zusammenfassend kann man sagen, dass es zwei Definitionen gibt: eine sehr offene (alles ist Text), und eine etwas restriktivere (zur Literatur gehören die Texte, die als Buch veröffentlicht werden). Und tatsächlich ist alles Text.
Unsere Sprache gibt uns den Hinweis darauf, wenn wir davon sprechen, die Gedanken des anderen zu lesen, oder die Spuren zu lesen, oder im Gesicht von jemanden dessen Gefühle zu lesen. Wir lesen viel mehr als Buchstaben und Wörter, wir lesen Kunst, wir lesen den U-Bahn-Plan, wir lesen die Kleidung des Nachbarn (geht er morgens in Anzug und Krawatte aus dem Haus, geht er zur Arbeit, macht er das abends, geht er wohl zu einem Event), wir lesen die Blumen (rote Rosen für die Person, die wir lieben, weiße Lilien zur Hochzeit, Gladiolen für den Verstorbenen) und, ja, wir lesen auch die Emojis und GIFs in den Whatsapp-Nachrichten. Also lesen wir und identifizieren Text überall und zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Wenn wir Literatur definieren als all das, was in Buchform erscheint, dann ist es sicher zu sagen, dass nicht alle diese Art von Texten lesen, und vor allem nicht überall zu jeder Tages- und Nachtzeit. Das Buch ist ein fester Bestandteil unserer Kultur, aber bei Weitem nicht der Einzige. Neben dem Buch ist der Fernseher wichtigste Quelle der Information, und die neuen Kommunikationsformen, soziale Netzwerke und Internet sind genauso wichtig oder sogar noch attraktiver.
Wir lesen viel mehr als Buchstaben und Wörter, wir lesen Kunst, wir lesen den U-Bahn-Plan, wir lesen die Kleidung des Nachbarn, wir lesen die Blumen und, ja, wir lesen auch die Emojis und GIFs in den Whatsapp-Nachrichten.
Soledad Marquez
Das Buch scheint in einem globalen Rahmen an Einfluss verloren zu haben, und speziell in Südamerika verliert man die Gewohnheit des Lesens; eine Tendenz, die von Studien zum Thema wiedergegeben wird. In Chile, das Land Südamerikas, in dem laut UNESCO am meisten gelesen wird, lesen 51% der Einwohner einen Durchschnitt von 5,4 Büchern im Jahr. Allerdings sind die Gründe, wegen denen man liest, enttäuschend: 35% der chilenischen Leser lesen aus akademischen Gründen, 26% lesen um sich zu informieren und nur 7% als reines Freizeitvergnügen. Wenn wir diese Zahlen sehen, überrascht es nicht mehr, dass laut einer Studie des IALS (International Adult Literacy Survey) aus dem Jahr 1998 mehr als 50% der Erwachsenen in Chile als funktionale Analphabeten katalogisiert wurde. Das heißt, dass jeder zweite erwachsene Chilene zwar lesen und schreiben, aber weder das Gelesene versteht geschweige denn analysieren kann.
Lesen ist nicht nur die Aktion des Erkennens von Buchstaben und Zusammensetzung der Buchstaben zu Wörtern, um so ganze Sätze zu erkennen. Lesen ist außerdem, die Information des Textes zu verstehen, aus dem Text zu schlussfolgern und Informationen aus verschiedenen Texten zu einer neuen Information zusammen zu setzen. Diese Fähigkeiten werden als bemerkenswertes Leseverständnis definiert. Und es ist just das, was beim Lesen lernen kultiviert werden muss, um die Information der gelesenen Texte zu speichern. In diesem Kontext überrascht es, dass eine Publikation der Universidad Tecnológica Metropolitana aus dem Jahr 2006 offenlegt, dass weniger als 25% der chilenischen Hochschulabsolventen die oben genannten bemerkenswerten Leseverständniskompetenzen zeigen. Auch wurde dabei fest gestellt, dass die Studenten der staatlichen Hochschulen mehr lesen (etwa 75,5%) als die Absolventen privater Universitäten (etwa 58,2%). (Quelle)
Wenn wir Statistiken zu diesem Phänomen lesen, fällt mir immer wieder auf, dass wir zwar die Leser der letzten drei oder vier Jahrzehnte vergleichen, aber aufgrund fehlender Zahlen nicht die Leseranteile der letzten drei oder vier Jahrhunderte in Beziehung setzen.
Soledad Marquez
Wenn man diese Studien liest und versteht, was sie bedeuten, tendiert man dazu, sich zu erschrecken. Die Zahlen sind hoch, und wenn wir diese Ziffern mit denen der europäischen entwickelten Länder vergleichen, zerstört uns das. In Deutschland, beispielsweise, kaufen 44% der Einwohner regelmäßig Bücher, 11% der Deutschen lesen täglich in einem Buch. In Chile ist man davon sehr weit entfernt. Dennoch wird auch in Deutschland ein Rückgang der Bücherverkäufe und des Lesens an sich registriert. Und der deutsche Buchhandel beschwert sich jährlich über rückgängige Verkaufszahlen. Daraus resultiert die Tendenz, diese Situation als einen globalen Verlust der Lesegewohnheit insgesamt zu interpretieren.
Wenn wir Statistiken zu diesem Phänomen lesen, fällt mir immer wieder auf, dass wir zwar die Leser der letzten drei oder vier Jahrzehnte vergleichen, aber aufgrund fehlender Zahlen nicht die Leseranteile der letzten drei oder vier Jahrhunderte in Beziehung setzen. Versuchen wir doch, mit ein wenig gesundem Menschenverstand, die Situation zu analysieren: wir wissen, dass Lesen eine Kompetenz war, die nur sehr wenigen vorbehalten war. Es waren Aristokraten, lange Zeit nur die Männer unter ihnen, vor allem die Erstgeborenen, die lesen konnten, und sie taten es nicht als Hobby, sondern um Informationen auszutauschen, Briefe zu schreiben, Karten zu lesen, Buchhaltung zu machen. Die Lektüre als Freizeitbeschäftigung war nie ein Hobby eines jeden, in der Tat konnte sich das Lesen erst durch die Erfindung des Buchdrucks überhaupt popularisieren. Und nur diejenigen, welche die nötigen Mittel hatten, ihre Kinder zur Schule zu schicken und Bücher zu kaufen, konnten sich den Luxus leisten, als bloße Freizeitbeschäftigung zu lesen. Man muss auch feststellen, dass im 18. und 19. Jahrhundert, eine Zeit, in der der Zugang zur Schulbildung schon verbreiteter war, keine mediale Konkurrenz zum Buch existierte. Es gab als Freizeitbeschäftigung die Oper, das Theater und das Buch. Wer also die finanziellen Möglichkeiten hatte, sich Zugang zu diesen Freizeitbeschäftigungen zu verschaffen, musste nicht so viel entscheiden.

Oder reden wir vom Zugang zu öffentlichen Bibliotheken: in Deutschland öffnen diese bis spät am Abend, und auch samstags, sonntags und an Feiertagen; in Chile sind Bibliotheken nur während der normalen Schul- und Arbeitszeiten geöffnet, und schließen wenn die Schüler, Studenten oder Arbeiter die Zeit hätten, sie zu besuchen.
Es ist sehr wichtig zu erkennen, dass all diese Hindernisse, sowohl diejenigen, welche die Chilenen und die Deutschen teilen, wie die Menge an alternativen Freizeitbeschäftigungen, als auch diejenigen, die nur die Chilenen betreffen, wie die Öffnungszeiten öffentlicher Bibliotheken, nicht verhindern können, dass es Leser gibt. Dass es in der heutigen Welt weniger Leser gibt als vor 60 Jahren und mehr als vor 120, ist eine normale kulturelle Entwicklung, die als solche akzeptiert werden muss. Das Buch wird jedoch als Medienoption nicht aus der Kultur gelöscht, und es wird sicherlich wieder Zeiten geben, in denen mehr als heute gelesen wird. Ich kann mir vorstellen, dass in Zukunft, wenn Netflix und die sozialen Netzwerke nicht mehr so „hip“ sind, es eine Rückkehr zu den Texten geben wird, vielleicht eher in ihrer elektronischen Form. Wir sehen, dass Kinos sich über weniger Besucher beschweren, dass die Zeitungen sich über weniger Leser ihrer Papierformate beschweren. Möglicherweise sollten wir die Menschheit den eigenen Weg, Kultur zu integrieren, finden lassen. Die Oper und das Theater sind weiterhin fester Bestandteil der Kultur, und haben ihre Nische und treuen Anhänger gefunden. Und so, glaube ich, wird es auch für Bücher sein. Alles ist Text, und wer weiß, vielleicht wird es bald Bücher geben, die Emojis als Teil des Buchstabenrepertoires nutzen.
Die Redaktion
Soledad Marquez ist Deutsch-Chilenin; in Deutschland geboren, wuchs sie in Chile und Brasilien auf, studierte in Deutschland und lebt nun in ihrer Herzensheimat Chile am Meer. Sie studierte spanische, französische und portugiesische Literaturwissenschaft und liebt Bücher. Außerdem surft sie gerne und sammelt Muscheln auf Strandspaziergängen mit ihrem Mann und ihrer Tochter.