Literaturkritik: „Der Bergmann“ von Natsume Soseki

„Der Bergmann“ von Natsume Soseki ist mehr als ein 50 Jahre früher erschienener „Der Fänger im Roggen“, aber nicht weniger bedeutend.

Es gibt in der Literaturgeschichte eine ganze Reihe von Romanen, die als DER Roman ihrer Generation gelten. Der bekannteste ist sicher Der Fänger im Roggen von J.D. Salinger aus dem Jahr 1951, in dem der Autor den jungen Holden Caulfield auf eine mehrtägige Reise schickt. In gewisser Weise kann man Salingers Roman fast als den (nachträglichen) Prototypen dieser Sorte Romane betrachten. Ein junger Mann, der nicht weiß, was er mit seinem Leben anfangen soll, aber mit der Welt der Erwachsenen nicht zurechtkommt, ist auf einer Reise.

Das ist auch die Geschichte in Der Bergmann des Japaners Natsume Soseki, nur das die Geschichte ein halbes Jahrhundert früher erschienen ist. Soseki schickt wie Salinger einen Ich-Erzähler auf eine Reise. Ein junger Mann, der zu Fuß unterwegs ist. Tokio liegt hinter ihm. Tokio und zwei Mädchen, von denen er eines hätte heiraten sollen, sich aber lieber für die andere entschieden hätte. An einer kleinen Essensbude stößt er auf eine Gestalt, die sich als Arbeitsvermittler für Bergwerke entpuppt. Wortreich wird unserem jungen Helden versprochen, als Bergmann könne man reich werden. Doch ihn lockt eher die Aussicht auf einen schnellen Tod. Da erscheint ihm ein Bergwerk gut genug. Also lässt er sich anwerben und lässt sich auf seiner Flucht in eine andere Richtung treiben.

Natsume Soseki’s Roman spiegelt also auch eine Reise wieder, oder gewissermaßen sind es sogar zwei. Die erste führt den Ich-Erzähler von Tokio in die Unterkunft einer Bergmannsgruppe, in der er künftig arbeiten soll. Die zweite führt ihn an einem Tag durch das tiefe Tunnelsystem, in dem er künftig arbeiten soll. Beide Erzählungen werden von Soseki in einem unglaublichen Detailreichtum, den man nur noch mit Marcel Proust vergleichen kann.

ZITAT: Eine ganze Weile schon laufe ich durch diesen Kiefernhain, und so ein Kiefernhain zieht sich viel länger hin, als er sich auf Bildern darstellt. Soweit ich auch gehe, nichts als Kiefern. Ich komme einfach auf keinen grünen Zweig. Da kann ich laufen, so viel ich will.

Und dennoch fesselt Der Bergmann den Leser vom ersten Satz derart stark, dass er sich von einem der kurzen Kapitel zum nächsten weiterblättert. Das ist durchaus auch ein Verdienst der renommierten Japan-Übersetzerin Ursula Gräfe, der es ausgezeichnet gelingt Soseki ins Deutsche zu übertragen. Kein Gedanke geht verloren, keine Prosa versagt seine Wirkung und auch nichts von dem feinen Humor, der immer wieder in den Betrachtungen des Ich-Erzählers aufblitzt bleibt dem Leser verborgen.  

Natsume Soseki
Natsume Soseki im Jahr 1912

Natsume Soseki teilte auch den frühen Tod mit Marcel Proust, er starb 1916 mit nur 49 Jahren. Sein Bergmann erschien acht Jahre zuvor, war also in gewisser Weise ein Spätwerk des Autors. Soseki hatte zu diesem Zeitpunkt aber bereits viel von der Welt gesehen. Japan, das über Jahrhunderte in der Selbstisolation verbracht hatte, befand sich noch immer in einem gewaltigen Umbruchprozess. Das Land schickte sich in einer unglaublichen Aufholjagd an zur Weltmacht zu werden, versuchte aber zugleich seine eigenen Traditionen zu bewahren. Auch dieser Spannungsprozess findet natürlich in diesem Roman seinen Part, auch wenn Soseki versteht diese gesellschaftlichen Spannungen einer Gesellschaft im Umbruch zu zeichnen, ohne sie direkt zu thematisieren.

Der Bergmann ist ein Roman, den jeder Leser, der sich für japanische Literatur interessiert, gelesen haben muss. Verdeutlicht wird das in der aktuellen bei Dumont erschienen Ausgabe auch durch ein Vorwort des japanischen Star-Autoren Haruki Murakami. Murakami, längst Daueranwärter auf den Literaturnobelpreis, preist das Werk darin als eines seiner Lieblingsbücher. Aber auch wer J.D. Salinger, Marcel Proust oder auch James Joyce schätzt, findet in Natsume Soseki einen Autor gleichen Ranges und gleichen Talents. Man sollte sich auch nicht von der fremden japanischen Kultur abschrecken lassen, denn die Geschichte in Der Bergmann ist ebenso typisch japanisch, wie sie dennoch kulturübergreifend ist.