Wilhelm Canaris – Symbolfigur des nationalkonservativen Widerstands

Für manche ist Wilhelm Canaris, Chef der deutschen Abwehr, eine zwiespältige Figur. Für mich jedoch ist er ein Held.

Wer sich für Geschichte interessiert, kennt das vielleicht. Es gibt historische Figuren, die einem aus irgendwelchen Gründen besonders nahestehen, mit denen man sich über Jahre hinaus beschäftigt und von denen man mehr als nur eine Biographie gelesen hat. Für mich ist eine solche Figur Wilhelm Canaris, der mich in gewisser Weise seit fast 30 Jahren begleitet.

Begonnen hat alles mit einem fiktiven Kinofilm aus dem Jahr 1977 – ob es ein Zufall ist, dass ich in diesem Jahr geboren wurde, wer weiß? Der Adler ist gelandet war der große Roman von Jack Higgins, der eine ganze Reihe von Thrillern geschrieben hat, in denen meist die IRA oder zumindest ein IRA-Aussteiger eine Rolle spielt. In Der Adler ist gelandet übernimmt diese Rolle Liam Devlin, gespielt von Donald Sutherland, der von den Deutschen angeheuert wird, zusammen mit einer Einheit deutscher Fallschirmjäger nichts anderes zu tun, als Winston Churchill zu entführen. Das klingt absurd, und wurde von Higgins so natürlich auch erfunden, aber inspiriert wurde es von der historischen Befreiung Mussolinis durch die SS. Im Film bekommt die Abwehr den Auftrag Churchill zu entführen, woraufhin Canaris zwar einen Plan ausarbeiten lässt, aber niemals daran denkt ihn auch durchzuführen. In der fiktiven Geschichte nimmt daraufhin Himmler die Sache in die Hand und startet das Unternehmen über den Kopf von Canaris hinweg.

Diese Episode hat so nie stattgefunden, kann aber durchaus auf dem wahren Charakter von Wilhelm Canaris aufbauen. Als Chef der Abwehr, dem Nachrichtendienst der Wehrmacht, gab es unzählige Befehle, die Canaris entweder durch Gegenargumente verhinderte oder eben ins Leere laufen ließ.

Ein filmreifes Leben

Wilhelm Canaris, 1887 geboren, diente zuerst in der kaiserlichen Marine und später in der Reichsmarine der Weimarer Republik. Und auch wenn sich die meisten Biographen auf seine Zeit als Abwehrchef und zentrale Figur des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus beschäftigen, wäre bereits diese Zeit – sozusagen – filmreif. Und dennoch erschien erst vor kurzem, in Form einer wissenschaftlichen Dissertation, ein Buch, dass sich ausschließlich mit der Zeit vor 1934 beschäftigt.

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Die S.M.S. Dresden im Hafen von New York (Von Detroit Publishing Co., publisher. Gift to LOC; State Historical Society of Colorado; 1949.)

Ich will diese Jahre hier kurz umreißen, um vielleicht etwas von meiner Faszination weiterzugeben, die ich für diesen Mann empfinde.

Canaris diente als junger Offizier auf der S.M.S. Dresden, die im 1. Weltkrieg nach einem Gefecht in einen chilenischen Hafen einlaufen musste. Chile war ein neutrales Land, und auch wenn die Sympathien bei vielen südamerikanischen Ländern damals für Deutschland groß waren, und die chilenische Armee gar ein Abbild der preußischen war, wurde die Mannschaft interniert. Der junge Canaris jedoch dachte gar nicht daran das Kriegsende in Chile abzuwarten, er machte sich davon und nach einer abenteuerlichen Flucht durch Südamerika, schaffte er es tatsächlich zurück nach Deutschland. Von dort aus begann er seine ersten Schritte im Umfeld der Nachrichtendienste, man schickte ihn nach Spanien. Zeit seines Lebens sollte ihn ab da eine tiefe Liebe zu diesem Land bestimmen, der es Spanien vielleicht sogar verdankte nicht an der Seite Deutschlands und Italiens in den 2. Weltkrieg einzutreten.

Erste Schatten auf dem historischen Charakter

Die Revolutionswirren erlebte er wieder in Deutschland, wo auch die ersten Schatten auf seine Karriere trafen. Sein Name ist für viele mit der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht durch rechte Freikorps verbunden, an denen er zwar unbeteiligt war, jedoch eine Rolle bei den Gerichtsprozessen der Mörder spielte. Die Urteile waren, um es kurz zu machen, euphemistisch ausgedrückt, milde. Eigentlich Fehlurteile, aber in einer Zeit gefällt, in der Recht nicht immer Recht war.

Wilhelm Canaris
Admiral Canaris als Korvettenkapitän in der Weimarer Republik

Canaris blieb der Marine treu, diente auf Schiffen, kommandierte Schiffe, war schließlich Kommandant eines Stützpunktes. Als 1934 schließlich der Posten als Leiter der Abwehr vakant war, erinnerte man sich an seine nachrichtendienstliche Vergangenheit. Kurz darauf wurde er schließlich auch zum Admiral ernannt.

Die Abwehr im Diensten des deutschen Widerstandes

Es gibt Historiker, die die Abwehr als Hort des Widerstandes gegen Hitler sehen, das dürfte aber nur ein Teil der Wahrheit sein. Natürlich arbeitete die Abwehr auch unter Canaris in den Vorkriegsjahren und bis zu ihrer Auflösung und Einverleibung in das Reichssicherheitshauptamtes für die deutschen Interessen. Und fügte den Alliierten durchaus die ein oder andere schmerzliche Niederlage zu. Und dennoch konnten Widerstandskämpfer wie Helmuth James von Moltke oder auch Dietrich Bonhoeffer nur deshalb solange wirken, weil sie eben in der Abwehr unterkamen und der Admiral nicht nur seine schützende Hand über sie hielt, sondern ihnen auch das Netzwerk des Nachrichtendienstes für ihre Arbeit zur Verfügung stellte. Sein Engagement bezahlte er am Ende mit dem Leben, als er in den letzten Kriegstagen unteranderem gemeinsam mit Bonhoeffer im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet wurde.

Dabei war es ihm lange gelungen in den Augen Hitlers als „guter“ Mann zu wirken, was auch die gewisse Zwiespältigkeit darstellt, die der historische Canaris für viele heute noch hat. Dazu trug auch seine Bekanntschaft, über einige Jahre sogar Freundschaft, mit Reinhard Heydrich bei. Diesen hatte er noch vor dem Krieg kennengelernt, ehe man Heydrich aus der Marine warf. Als Leiter des SD, des Nachrichtendienstes der SS, war Heydrich später sein größter Gegenspieler – sowohl im Kampf gegen das Regime, aber auch im Wettkampf der Geheimdienste. Seinen Sieg, also der Auflösung der Abwehr und ihrer Übernahmen ins RSHA, sollte Heydrich nicht mehr erleben. Er fiel zuvor einem Attentat in Prag zum Opfer.

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Wilhelm Canaris auf der Beerdigung von Kaiser Wilhelm II, links (Von Bundesarchiv, Bild 183-L19106 / Fritz / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, Link)

Nach dem 2. Weltkrieg wurde Canaris zur Identifikationsfigur des anderen Deutschlands

Heute kann man an der Bewertung von Wilhelm Canaris übrigens auch sehr gut die Wellen der deutschen Nachkriegsgeschichtsschreibung ablesen. In den ersten Nachkriegsjahren diente das Opfer von Canaris als ein Beispiel eines anderen Deutschlands. Er wurde zu einer Identifikationsfigur der jungen Bundesrepublik, die aufzeigen wollte, dass es auch während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ein anderes Deutschland gab. Zudem war er deutlich einem nationalkonservativen Lager zuzuordnen, was im Kalten Krieg, und der anti-kommunistischen Stimmung, natürlich ein weiterer Pluspunkt war. Diese Epoche fand ihren Höhepunkt wohl im Spielfilm Canaris in der ein dem Admiral verteufelt ähnlich sehender O. E. Hasse 1954 die Titelrolle verkörperte. 1976 hatte sich der Wind gedreht, in seiner als Standardwerk geltenden Biographie zeichnete der Historiker Heinz Höhne ein kritischeres Bild des Admirals. Allerdings auch nicht so kritisch, dass er damit mein persönliches Bild des Admirals zerstörte, schließlich war es auch diese Biographie, die meine erste historische Quelle zu Canaris war.

Natürlich bietet Canaris für mich, als bekennenden Konservativen, auch eine Identifikationsfigur, weil er eben ein Vertreter des konservativen Widerstandes war. Er mag – bemessen am heutigen Zeitgeist, der zudem den Fehler begeht, historische Figuren am heutigen Zeitgeist zu messen – nicht zum aufrichtigen Demokraten taugen. Canaris wurde noch im alten Kaiserreich sozialisiert, und dennoch vertrat er ein Weltbild, das dem des Nationalsozialismus zutiefst widersprach. Er besaß sozusagen die Fähigkeit in einer Zeit Mensch zu bleiben, in der die meisten entweder wegsahen oder sich an den Unmenschlichkeiten beteiligten – und sei es, weil man es ihnen befohlen hatte. Als Offizier jedoch vertrat er bereits ein Weltbild, das man heute jedem Soldaten und Offizier der Bundeswehr lehrt, es gibt Befehle, die nicht auszuführen, die wahre Pflicht des Soldaten ist. Canaris tat dies, und versuchte zudem zu helfen, wo er helfen konnte. Nicht nur indem er als einer der höchstrangisten Offiziere der Wehrmacht – und übrigens der einzig nennenswerte Vertreter der Marine in diesen Rängen – die Abwehr als Instrument für den deutschen Widerstand nutzte, sondern auch in Einzelfällen Verfolgten, seien es Juden oder politische Oppositionelle, zur Flucht oder zum Überleben im Dritten Reich verhalf. Und der Grund, warum er dies tun konnte, lag eben auch daran, dass er bis zuletzt als Abwehrchef eine entscheidende Schnittstelle in der Wehrmacht innehatte.

Gedenkstein im ehemaligen KZ Flossenbürg

Manche sehen in dieser Doppelrolle einen für Canaris typischen Wesenszug. Ich persönlich kann mir aber nur schwer vorstellen, dass er sich in dieser Rolle wirklich wie ein „alter Fuchs“ fühlte, der mit Hitler ein Doppelspiel trieb. Ich glaube nicht, dass er Vergnügen darin fand den Nazis den treuen Admiral vorzuspielen, während er insgeheim aktiv im Widerstand war. Ich glaube, dass Wilhelm Canaris Seelenqualen ausgestanden haben muss, allein wegen der in vielen Widerständlern bohrenden Frage, ob man nicht noch mehr tun könnte. Für manche mag dieser Zwiespalt Grund genug sein, sein Wirken und Andenken zu schwärzen. Aber die Forderung nach einem klaren Bekenntnis ist – und das betrifft auch Männer wie zum Beispiel Claus Schenk von Stauffenberg oder Henning von Tresckow – eine Forderung, die nur derjenige aufstellen kann, der die Gnade der späten Geburt hat. Für mich dagegen sind Männer wie Wilhelm Canaris aus diesem Grund umso mehr etwas, was jedes Volk, nein, die Menschheit an sich, dringend benötigt – Helden.